Duchamp in München

14. Juni 2012 / Eingestellt von thw um 08:33 /



Die Ausstellung 'Duchamp in München' ist sehr gelungen. Anbei ein Text dazu:

Hugo Boadas 

 

Duchamp in München
Zur Ausstellung im Kunstbau der Städtischen Galerie im Lenbachhau

Zum hundertjährigen Jahrestag des Besuchs Marcel Duchamps in München widmet ihm die Städtische Galerie dort eine Gedenkausstellung. “Mein Aufenthalt in München war der Ort meiner völligen Befreiung…“ Dieser Satz wurde für diese Ausstellung zum Motto gewählt. Formuliert hat ihn Duchamp in seinem Diavortrag “A propos of myself” 1964 im City Art Museum of St. Louis: „My stay in Munich was the scene of my complete liberation, when I established the general plan of a large size work which would occupy me for a long time on account of all sorts of new technical problems to be worked out.“ (“A propos of myself” in: Marcel Duchamp, (Hg. Anne d’Harnoncourt u. Kynaston McShine) Katalog Museum of Modern Art, NY, und Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1973, 263) Die Fortsetzung des Satzes unterstreicht die Bedeutung für das folgende künstlerische Projekt des Großen GlasesLa mariée mise à nu par ses célibataires, même“.
Die Münchener Ausstellung versammelt alle sechs bekannten Arbeiten, die Duchamp während seines hunderttägigen Aufenthalts dort im Sommer 1912 gefertigt hat. Sie sollen abschließend die immer noch offene Frage klären helfen, wodurch die Wende in der künstlerischen Entwicklung Duchamps initiiert wurde, die zum Großen Glas  führte. Soweit der Anspruch dieser Ausstellung. Schwer für den Laien zu vermitteln – wie Duchamps Arbeit überhaupt – weshalb die meisten der wenigen Besucher die feuilletonistische Aufbereitung des Bayrischen Rundfunks eine dreiviertel Stunde lang auf einer Projektionsleinwand verfolgen. Gut dagegen die Idee, neun themenorientierte Begleithefte mit bebilderten Kurztexten auszulegen. In beiden Darbietungen sind die Informationen allerdings durchsetzt mit spekulativen Darstellungen der Katalogautoren. Was für die Katalogbeiträge hinnehmbare, wenn auch postulative Meinung ist, will in den Heften beeinflussen und lenken. Leider ist auch der Ausstellungsraum selbst wenig einladend gestaltet. Das heruntergedimmte Licht in einem dunkelgrau gestrichenen unterirdischen Raum verbreitet Mausoleumsatmosphäre, die Duchamp zu ironischen Kommentaren herausgefordert hätte. Oder befinden wir uns im Versammlungsraum einer Geheimgesellschaft von Duchampexegeten?
Die Münchener Arbeiten werden ergänzt durch den „Nu descendant un escalier“, der zweiten Version vom Frühjahr 1912. Dies Bild erregte später in der Ausstellung in der Armory Show 1913 in New York viel Aufmerksamkeit und machte Duchamp in den USA bekannt. Zuvor eingereicht zum Salon des Indépendants 1912 in Paris, wurde es jedoch von seinen Malerfreunden um Gleizes, Metzinger und seinen Brüdern abgelehnt, da es deren kubistischen Auffassungen widersprach. Duchamp wurde veranlasst, es zurückzuziehen oder zumindest den Titel zu ändern. Dieser Streit führte schließlich dazu, dass sich Duchamp verärgert von dieser Gruppe trennte und seine Reise nach München unternahm, wohin ihn sein deutscher Malerfreund Max Bergmann während seines Parisbesuchs eingeladen hatte. Damit ist mit diesem letzten Bild der eher eklektischen kubistischen Schaffensphase der prominente Ausgangspunkt für die nachfolgenden Arbeiten der Münchener Zeit gesetzt.
Am anderen Ende der Münchener Arbeiten steht das Große Glas La mariée mise à nu par ses célibataires, même“, hier in der Replik von Richard Hamilton, die er 1966 für die Duchamp-Retrospektive in der Tate Gallery schuf. Leider ist die Aufstellung in der Münchener Ausstellung misslungen, geradezu kontraproduktiv. Das Glasbild, das von seiner Transparenz lebt, sollte mitten im Ausstellungsraum freistehen, befindet sich aber nur zwei Meter vor die dunkelgrau gestrichene Wand gerückt, womit es den Effekt eines opaken Bildes bekommt. Die Rückseite des Bildes ist durch falsche Lichtführung verschattet und nicht hinreichend sichtbar. Dabei sind Duchamps Absichten mit dem in Philadelphia von ihm selbst eingerichteten Original vorgegeben. Auch die Aufstellung der zweiten Replik (von Ulf Linde gefertigt) in Stockholm trägt dem Rechnung. Sie steht dort mitten im Ausstellungsraum und gibt den Blick durch das Glas hindurch und durch ein großes Fenster nach draußen frei. Weiterhin zeigt man die drei „Schachteln“ und die „Box in a valise“ (Schweriner Landesmuseum, außer Schachtel v. 1914 vom Centre Pompidou, Paris).  Ein abstraktes Bild von Kandinsky soll wohl das künstlerische Umfeld repräsentieren; ein aufgeschnittener Automotor (Ausstellungsstück aus dem Deutschen Museum München) sucht dem Besucher die Herkunft der mechanomorphen Elemente in den fraglichen Zeichnungen Duchamps plausibel zu machen und mit Max Bergmanns Ölbild mit Kühen wird die andere Seite des künstlerischen Umfeldes gezeigt. Aus dem privaten Fundus Bergmanns zeigt man außerdem das von Duchamp geschenkte Bilboquetspiel, ein Tagebuch und einige private Fotos. Die Fotos zeigen Bergmann mit zwei Nacktmodellen und bedauerlicherweise nicht Duchamp, womit wir beim lustigen Künstlerleben angelangt wären. Der nackte Duchamp erscheint dann aber doch noch auf der von ihm 1967 angefertigten Radierung nach einem Foto von Man Ray, das ihn mit einer Frau zusammen nackt als „tableau vivant“ nach Lucas Cranach d. Ä. „Adam und Eva“ zeigt.  Für das Theaterstück „Relâche“ von Picabia wurde dies als Pausenfüller, wie der Film „Entr’acte“ von R. Clair, aufgeführt .
Eine dieser Varianten des „Adam und Eva“ Motivs von Cranach hatte Duchamp in der Münchener Alten Pinakothek gesehen und war von der Malweise Cranachs sehr beeindruckt, wie schon Lebel in seiner Monographie von 1959 (dt.1962)  feststellte. Lebel bemerkte außerdem, dass Duchamp die Farben in „Passage de la Vierge à la Mariée“ und „Mariée“ z.T. mit dem Fingern aufgetragen und verstrichen hatte, um die altmeisterliche glatte Lasurmalerei nachzuahmen. Duchamps Interesse bezog sich aber nicht nur auf die Techniken dieser Malerei, die in der Sammlung reich vertreten ist, sondern findet ihre inhaltlichen Bezugnahmen entscheidend: „In der Tat war alle Malerei bis in die letzten hundert Jahre literarisch oder religiös: sie ist in den Dienst des Geistes gestellt worden.“ (James J. Sweeney, Eleven Europeans in America The Museum of Modern Art Bulletin, NY, XIII, 1946, auch in: M. Sanouiilet u. E. Peterson, Ed., The essential writings of Marcel Duchamp, London 1975, S.125 (eigene Übersetzung)
Im Katalog versucht nun Michael Taylor das „Adam und Eva“–Motiv in die Generalhypothese dieser Ausstellung einzupassen. Diese wird im Nachweis eines gedanklichen und ikonographischen Zusammenhanges der Münchener Arbeiten mit persönlichen Liebesgeschichten, Erotomanien und Machismo gesucht. Daher wird bei ihm aus der Fingermalerei, mit der Duchamp ja einen bestimmten Zweck verfolgte, eine „infantile Geste, die sich als Rückfall in die Unschuld der Kindheit deuten lässt“. „Dieser sinnenfreudige Einsatz von Ölfarbe ist zweifellos erotisch konnotiert, insbesondere angesichts des sexuell aufgeladenen Sujets der Arbeit,…“ (S.59) Derartige Kapriolen vorweg, wird für Taylor die „Eva“ Cranachs zur „femme fatale“ und demzufolge glaubt er, entwickelte Duchamp mit „Mariée“ als „biomechanischer Braut“ eine zeitgeistige Adaption dieses Themas in seinem Großen Glas. Taylor breitet sein kunsthistorisches Wissen über „Adam und Eva“ und Cranach aus, um dann die Frage, warum sich Duchamp auf „Adam und Eva“ bezog und nicht etwa auf die „Mona Lisa“, damit zu beantworten, er habe seinerzeit eine Beziehung mit Mary Reynolds gehabt. Und er zitiert deren Exliebhaber, „Reynolds (sei) von ‚merkwürdiger Figur’, mit geschmeidigen kräftigen Waden, einem eingefallenen Bauch und kleinen Brüsten, einem langen Hals und einem scharf geschnittenen und doch sanften Vogelgesicht; sie sei von einem auf anmutige Weise misslichen Äußeren, wie ein Mädchen in einem Bild von Cranach’.“ (S.65) Dass Duchamp von Cranachs Frauengestalten so beeindruckt war, dass er seine langjährige Lebenspartnerin entsprechend auswählte, war mir neu und kann als bahnbrechende Erkenntnis der sogenannten Duchampforschung gelten! Schließlich bezieht Taylor die „Adam und Eva“ Geschichte auf Duchamps letztes Werk „Étant donnés“, was ich hier nicht weiterverfolgen möchte.
 Mit einer mechanomorphen Ikonographie, die übrigens stark beeinflusst ist von Picabia, versucht Duchamp formale Gefüge darzustellen, wie die ausgestellten Zeichnungen zeigen. Technische Neuerungen wie Nähmaschinen, Automobile und Fluggeräte inspirieren und erneuern seine künstlerischen Ausdruckmittel. Es wäre jedoch irrig anzunehmen, ein Künstler erarbeite diese, um  dem technikbegeisterten Zeitgeist und den unglücklichen Liebesgeschichten eine bildnerische Entsprechung zu verleihen. Das befände sich auf dem Niveau von Kubismus und Empfindungsmalerei. Taylor verfolgt jedoch diesen Weg, den schon andere vor ihm gegangen sind, denn der Besucher soll offenbar auf diese, dem Anekdotischen verpflichtete Rezeptionsabsicht hingeführt werden. Die Leitidee aller Katalogbeiträge stellt sich leider in diese lange Tradition der Duchampexegese und man sieht daran, wie nachhaltig auch in der Kunst akademische Lehrmeinungen den Blick verstellen für eine unvoreingenommene Prüfung der künstlerischen Arbeit. Die Auswirkungen sind beträchtlich.
Aus den ausgestellten Münchener Arbeiten lässt sich gut ablesen, wie Elemente aus den beiden Zeichnungen der „Vierge“ im Ölbild „Le passage de la vierge à la mariée“ und weiterverarbeitet im zweiten Ölbild „Mariée“ auftauchen und von dort ganze Bildteile übertragen wurden in den oberen Teil des Glasbildes. Es handelt sich um die „Mariée“ oder den sogenannten „Weiblichen Gehenkten“, da dieses anthropomorphe Gebilde an einem (gemalten) Haken am oberen Rand des Glasbildes aufgehängt scheint. Warum das so ist, erscheint nicht in den Analysen des Katalogs, und was das Gebilde darstellen soll, wird nicht hinterfragt. Bei Molderings wird der Übergang von der „Vierge“ (Jungfrau) zur „Mariée“ (Braut) sexuell konnotiert, unterlegt mit Hinweisen darauf, dass die Braut früher ihre Aussteuer selbst nähen musste, nun mit der Nähmaschine. Auch wenn Molderings behauptet, die Zeichnung von „Vierge N°1“ stelle den Kopf einer Nähmaschine dar, so ist diese Interpretation soviel wert wie Linda D. Hendersons Behauptung, diese Zeichnung stelle um 90° gekippt den Schnitt durch die Antriebsaggregate eines Renault-Automobils von 1902 dar. (Linda D. Henderson, Duchamp in context, Princeton, NY, 1998, S.89f, fig. 50,51) Dieser Ansatz ist sogar plausibler, da Duchamp in der Grünen Schachtel in seiner zehnseitigen Notiz zur Braut angibt, in zwei Münchener Zeichnungen den „arbre-type“ (Kardanwelle) dargestellt zu haben – und es kommen nur die beiden „Vierge“ Fassungen in Betracht. Was also ist gewonnen? Die Beschreibung der „Mariée“ und der „Celibataires“ in der langen Notiz der Grünen Schachtel stellt eine Mixtur aus dem Jargon der Automobiltechnik und erotischer Anspielungen dar. Auf der populären Ebene findet sich bis heute diese Mixtur in jedem Katalog von Automobilsalons. Stattdessen sollte man die Zeichnungen und die folgenden Ölgemälde auf ihren metaphorischen Gehalt einer in ihr enthaltenen Idee der Transformation (Jungfrau ® Braut) untersuchen. Dazu würde es sich lohnen, „Die Transformatoren Duchamp“ von Jean-Francois Lyotard wieder in die Hand zu nehmen.
Komplizierter ist die Entschlüsselung der Zeichnung mit dem Titel „Première recherche pour: La mariée mise à nu par les célibataires“. Dieser Titel gibt zum ersten Mal den Titel des Großen Glases vor, verändert heißt es dort „ses“ statt „les“ und „même“ beendet die Phrase. Übersetzen lässt sich dieser Titel mit „Die Braut entblößt durch die Junggesellen“, wobei das „mise à nu“ noch andere Bedeutungen enthält als „entblößt“, nämlich „offengelegt“, „offenbar gemacht“. Was also macht diese Zeichnung offenbar? Die zusätzlichen Anmerkungen „Mechanismus der Schamhaftigkeit/Schammaschine“ geben einen Hinweis auf die „schamhafte Kraft“ (puissance timide), von der in der langen Notiz zur Braut in der Grünen Schachtel die Rede ist. Offensichtlich wird die gesamte Transformation durch einen Motor angetrieben, der mit gebremster Kraft arbeitet. Aber es führt zu weit, wollte man die in Duchamps Text angelegten Erläuterungen hier darlegen. Das erfordert grundlegendes Vorgehen mit völlig anderer Hypothese. Diese Zeichnung ist jedoch einer der Schlüssel zur Ausdeutung des Großen Glases. Anstatt nun aber den diagrammatischen Ansatz dieser Zeichnung zu untersuchen, überträgt Molderings sehr mechanisch und gar nicht schamhaft das Gemälde „Die Rivalen“ von Adolf Münzer aus der Gewerbeschau von 1912 auf diese Zeichnung. Diese behauptete Vorlage stellt zwei männliche Gestalten dar, die mit Dolchen und Degen bewaffnet eine zwischen ihnen auf einer Blumengirlande sitzende Frau bedrängen. Bereits in dem Aufsatz von Ulf Linde von 1977 („L’ésotérique“, Katalog Marcel Duchamp, Centre Pompidou, Paris 1977, S.60ff) wurde diese Interpretation eingeführt, wenn auch anhand anderer Bildbeispiele. Molderings und auch Franklins Auslegung glaubt den heimlichen Kampf Duchamps um Picabias Frau Gabrielle darin widergespiegelt. Ähnlich argumentiert Michael Taylor, wenn er in seinem Katalogbeitrag „Beschämung und Verwundbarkeit in dieser bedrohlichen sexuellen Begegnung“ (S.57) ausmacht. Denkt er an Vergewaltigung? Ich möchte mir derartige Banalitäten als Gegenstand der Kunst lieber nicht vorstellen. Da ist Linda D. Henderson Deutung dieser Zeichnung, wenn sie Märchenhaftes aus dem Wunderland der Technik mit alchemistischen Spekulationen verbindet, unterhaltsamer, wenn auch nicht immer einleuchtender. (Linda D. Henderson, Duchamp in context, Princeton, NY, 1998, S.25)
So liest sich der Beitrag Molderings im ganzen wie ein Erlebnisbericht aus einer Zeit, in die sich peinlicherweise der Autor hineinversetzt, um aus einem Zeitgefühl heraus den Absichten seines Protagonisten näher zu kommen.  Die Aufhebung der kritischen Distanz verleitet Molderings zu plakativen Schlussfolgerungen, wie der, Duchamp sei ein Frauenheld gewesen. Und wie zum Beweis sei Duchamp, nach Angaben der Frau seines Freundes Picabia, Gabrielle Picabia, unsterblich in sie verliebt gewesen, und habe, um sie zu treffen eine vierzehnstündige Zugfahrt von München in den Jura unternommen. Mag sein, aber was soll das für die Kunst bedeuten? Auch Peggy Guggenheim behauptete in ihrer Autobiographie nach ihrer Trennung von Max Ernst eine Affäre mit Duchamp, die es aber nie gegeben hat. Scheinbar plausibel für den Konsumenten von Homestorys entwertet dieses Vorgehen ein ernsthaftes Verständnis des Duchampschen Kunstbegriffs, denn zum Kunstverständnis Duchamps trägt eine solche Vermutung, sei sie auch richtig, überhaupt nichts bei. Da ist der Wunsch Vater des Gedankens, denn wer je mit Künstlern zu tun hatte, weiß, dass zwischen der Party und dem Atelier eine Welt liegt. In dieselbe Richtung ermittelt Thomas Girst, der das Bilboquet eindeutig sexuell konnotiert sieht, denn immerhin muß der Stab in die Kugel gesteckt werden! Die Welt ist voller Dinge, die zusammengesteckt werden, eine Orgie. Und in der Zeichnung „Umarmung“ findet er bei einem tanzenden Paar den Frauenkörper als phallische Verlängerung des männlichen, von dem behauptet wird, er stelle Duchamp dar. Es müsste schon eine Selbstdarstellung sein, denn Duchamp selbst hat sie mit wenigen Strichen von hinten angedeutet gezeichnet. Für Girst ist Beweis genug, dass er einen Hut trägt, der ähnlich dem ist, den Duchamp auf einer Porträtskizze Bergmanns trägt. War Girst damals in Paris dabei?  
Statt vorgeblicher Quellentreue stellt sich der Eindruck von Hilflosigkeit der Interpretation ein. Dafür ist Erotismus ein elastischer Ersatz. Aber genau damit spielt Duchamp! Wenn man Duchamp für einen intelligenten und eher scharfsichtigen Beobachter hält, wird man kaum auf die Idee kommen, ihn als tumbes Opfer von Sex- und Automobilbesessenheit zu etikettieren, sondern viel eher als jemanden einzuschätzen haben, der bewusst seine wahren Absichten durch solche Metaphorik zu tarnen wusste. Nicht umsonst betont er Ironie als strategisches Mittel und bezeichnet sein Großes Glas als „tableau hilarant“ (Lachbild).
Es wird also ein autobiographisches Element als Triebfeder des Duchampschen Werks beteuert. Molderings Fazit im Katalog lautet: „Je mehr sich Duchamps Bildphantasie bei der Ausarbeitung der einzelnen Elemente dieses Gemäldes aus dem sexuellen Unbewußten speiste, desto stärker griff er fortan zu deren Darstellung auf möglichst unpersönliche, technische Bildverfahren zurück, …“ (S.33) Diese behauptete Kausalität zeigt die Hilflosigkeit als rhetorisches Blendwerk und dieser Ansatz ist weder neu noch reicht er zur Rechtfertigung dieser Ausstellung. Schon Thierry de Duve hat 1984 mit seinem „Nominalisme pictural“ versucht die psychologisch-biographisch gefärbten Ideen eines Michel Carrouges oder Arturo Schwartz erneut aufzubereiten. Schwartz ging immerhin so weit, Inzestbeziehungen zu vermuten, während Carrouges das Konzept der „Junggesellenmaschine“ 1954 geprägt hat und wesentlich H. Szeemanns Ausstellungsprojekt gleichen Titels von 1975 bestimmte. Über diese Ideen Carrouges’ hat sich Duchamp zu Lebzeiten noch lustig gemacht, als er Breton am 4.10.1954 schrieb:
„’Junggesellenmaschine’ soweit es „La Mariée…“ betrifft, bezeichnet eine Menge an Operationen und hat für mich keine andere Bedeutung als eines partiellen und beschreibenden Titels und nicht eines absichtsvoll mystischen Themas. … Unter Zuhilfenahme der grünen Schachtel hat Carrouges mit aller Gründlichkeit durch Sezieren des Unterbewußten einen verborgenen Ablauf zutage gefördert. Unnötig anzumerken, dass seine Entdeckungen, wenn sie ein kohärentes Ganzes ergäben, nie in meiner Ausarbeitung bewusst geworden wären, weil mein Unterbewusstsein stumm ist wie jedes Unterbewusstsein; und dass die Ausarbeitung weit mehr die bewusste Notwendigkeit von ‚Heiterkeit’ oder zumindest von Humor in einer so ‚ernsten’ Angelegenheit betraf.“ (Affectionately, Marcel, Hg F.Naumann u. H.Obalk, Ghent 2000, Brief N° 235; Übersetzung a. d. franz. v. Verf.)
So könnte man heute auch Molderings antworten. Warum sollte ein Künstler acht Jahre lang an einer eher pubertär anmutenden Erotomanie arbeiten und dafür erfindungsreich nicht nur eine ungewöhnliche Ikonographie entwickeln, sondern auch noch eine innovative Technik, wie sie in der spezifischen Bearbeitung von Glas erforderlich wurde? Das scheint mir überhaupt nicht plausibel. Die vereinten Bemühungen der kunstwissenschaftlichen Interpreten scheint dermaßen an den von Duchamp ausgelegten Leimruten zu haften, dass hier die notwendige Phantasie und der nötige Abstand verlorengegangen sind.
„In der Tat war alle Malerei bis in die letzten hundert Jahre literarisch oder religiös: sie ist in den Dienst des Geistes gestellt worden. Dieses Charakteristikum ist im vergangenen Jahrhundert nach und nach verschwunden. Je stärker ein Gemälde an die Sinne appellierte – je tierischer es wurde – desto höher wurde es eingeschätzt.“ Und wenige Zeilen weiter: „Dies ist die Richtung, die die Kunst einschlagen sollte: hin zu einem intellektuellen Ausdruck eher als zu einem tierischen Ausdruck. Ich bin angewidert von der Bezeichnung „dumm wie ein Maler.“ (Gespräch mit James J. Sweeney, Duchamp du signe, ed. M. Sanouiilet, Paris 1975, S.172 u. 174 (eigene Übersetzung; s.a.Stauffer, , a.a.O., S.37 u. 38)
Will man nun also sexuelle Phantasien, die doch wohl eher „tierisch“ sind, zum Inhalt der von Duchamp propagierten neuen Kunst „im Dienste des Geistes“ machen? Ist dies die „Entdeckung geistigen Sehens“, wie Molderings seinen Katalogbeitrag betitelt?
Womit beschäftigt sich ein Künstler?, möchte man die versammelten Duchampspezialisten fragen. Um das entsprechende Bild vom Künstler zu propagieren, zeigt man ein paar Fotos mit nackten Modellen. Der Künstler bei der Arbeit? Oder doch eher eine vergnügliche Arbeitspause. Sind es die in der Biografie aufgestöberten Liebschaften und die wüsten Gelage, wie später bei Arensberg in New York, die das Material der Künstler sind? Das scheinen mir eher kleinbürgerliche Phantasien zu sein und nicht vom Interesse getragen an der Ernsthaftigkeit künstlerischer Arbeit. Ginge es in der Kunst Duchamps um sexuelle Frustration, erotomanische Phantasie und Machogehabe, dann könnten wir getrost auf diese Kunst verzichten, denn derber und dümmer sind nicht einmal die Maler. In der Duchampexegese ist jedenfalls die Phantasie gefragt, die Duchamp hatte, und die nach wie vor seinen Exegeten fehlt!
Die Methode vieler Kunstwissenschaftler die künstlerische Arbeit als  Durcharbeiten biographischer Anlässe aufzufassen, stößt bei Künstlern generell auf Verachtung. Der künstlerischen Arbeit wird der Eigenanspruch genommen, ja, sie erscheint geradezu lächerlich als Betroffenheitslyrik und der Kunstbegriff wird einer laienpsychologischen Untersuchung unterzogen. Während dies Vorgehen plakativ erscheint, wird es bei Taylor zusätzlich problematisch, denn er funktionalisiert die Kunstgeschichte in passender Ideologie. Er macht sie zum „Prellbock“ („butoir“ – ein Ausdruck Duchamps) der künstlerischen Absichten Duchamps, indem er Cranachs Kunst selbst auf verborgene erotische Anspielungen hin bearbeitet. So wird aus der Kunstgeschichte heraus eine bestimmte Interpretation gerettet, die auf Duchamps Kunst übertragen, diese entschärft. Da bleibt dann nichts mehr vom „Bewusstsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt“, wie Benjamin in dem von Taylor zitierten Aufsatz über die Methode des historischen Materialismus sagt. (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. II,2, Frankfurt/M 1977, S.468) Ins Gegenteil gekehrt interessiert Taylor nur das „Nachleben des Verstandenen“, weil es für ihn die Kontinuität rettet; der historische Materialismus ist nicht seine Sache.
Duchamp, der mit dem Bewusstsein der Gegenwart die Kunstgeschichte aufsprengt, wird in der Kunstgeschichte entsorgt und damit geschieht genau das, was Duchamp als das drohende Schicksal jeder künstlerischen Arbeit ausgemacht hatte: Das Verdikt der Nachwelt, das sich alle 50 Jahre ändert, im Gewand des Geschmacks und der Ideologie. Von vielen ist dieser Sachverhalt kritisiert worden. Diese Ausstellung sucht keine kritische Distanz, sondern die Versöhnung der Kunstgeschichte mit Duchamp. Ein Satz von Paul Valéry mag hier für alle anderen stehen: „Das Leben des Autors ist nicht das Leben des Menschen, der er ist.“ (Paul Valéry: Anmerkung und Abschweifung, in: Paul Valéry Werke, Bd.6, Frankfurt/Leipzig 1995, S.98)

Laufzeit der Ausstellung  31.3.-15.7.2012

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