Kernfragen

2. September 2011 / Eingestellt von thw um 12:54 /

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Zur Eröffnung der Ausstellung 'Kernfragen Tempelhof-Schöneberger Kunstpreis 2011' hat der Betreiber dieses Blogs folgende Rede gehalten:


Sehr geehrte Damen und Herren,
würde Marcel Proust sein Opus magnum heute schreiben, er würde den Titel vielleicht ändern. Statt 'Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' würde er 'Auf der Suche nach der verlorenen Realität' schreiben.  Eine solche Wendung ist direktes Ergebnis der gemeinsamen Arbeit an der Ausstellung zum diesjährigen Tempelhof Kunstpreis, der unter dem Titel 'Kernfragen' steht. Und eine dieser  Kernfrage ist die Suche nach Realität. Oder die Frage: Was ist heute Realität?

Jeder Künstler und jede Künstlerin hat ihr ganz eigene Antwort auf dieses Frage. Und diese Antwort erinnert uns vielleicht auch daran, daß Kunst nicht nur ein Medium des persönlichen Ausdrucks ist, sondern auch eine Form der Erkenntnis. Die kann sich zeigen in der komplexen Videoinstallation von Monika Rechensteiner, die ebenso ein memento mori  wie ein Dokument ist, angesichts der Katastrophe in Fukushima und gleichzeitig ein Kunstwerk als state of the art.

Wenn Sie durch diese Ausstellung wandern, und ich rate ihnen, noch mal wieder zu kommen, dann werden Sie Bezüge entdecken, die erst subkutan sind und sich erst im  zweiten Blick zeigen. So antwortet auf die Videoinstallation von Monika Rechensteiner  das Werk von  Albert Markert mit dem Titel  'Projekt Kernenergie oder die Kunst braucht keine Meinung'. Und doch sieht diese Antwort ganz anders aus. Die Arbeit definiert einen enzyklopädischen Denk- und Assoziationsraum und stellt damit  auch  die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Kunst. Dem gegenüber sieht der Betrachter ein Werk, dessen depressive Stimmung einen selbst ergreifen kann, Jens Hausmann Gemälde mit dem Titel 'Abendland'. Es provoziert die Kernfragen menschlichen Seins. Wer oder was bin ich, wer ist die (der) Andere, wie ist unsere Beziehung zu uns selber und zueinander? Wie ist unser Verhältnis zu dem kulturellen und historischen Umraum; wann und wo bin ich? Die Skulptur 'ohne Titel' von Angelika Arendt könnte auch einen Platz finden im erwähnten Gemälde 'Abendland'.  Und gleichzeitig stellt sie die Frage nach dem Ort des Objekt und dessen Funktion. Gibt es eine abstrakte Entität, die kein Ebenbild in der Realität hat. Und welche Realität zeigt sich hier? Wo beginnt die Funktion und wo endet sie?
Eine mögliche Antwort geben die 'Installationen' von Kerstin Weichsel, die ausgehend von Schlagzeilen eine visuelle Poesie entwickeln, die ganz eigentümlich zwischen Literatur und Pop-Art einen Weg zur Darstellung findet. Die Bilder von Jens Klopfleisch stellen das abstrakte Moment zur Diskussion. Der interpretierende Blick des Betrachters springt zwischen verschiedenen labilen Ansichten. Der Vorgang des Sehens wird irritiert, die Wahrnehmung sequenziert und zeitlich gedehnt. Gleichzeitig zeigt sich in diesen Gemälden auch eine Geschichte der Malerei und wie ihr Inhalt zum Gemeingut werden kann.

Aber was heißt Gemeingut? Gibt es eine Realität, die wir alle teilen? Die Antwort lautet Ja und Nein. Das Nein begründet sich Blick auf die Fotoarbeiten von Maurice Baker, der darkrooms abbildet. Auf den ersten Blick können wir diese Räume nicht identifizieren. Nur die Legende klärt uns auf.

Die Legende ist auch zentraler Bestandteil des Beitrags von Esther Ernst, die in ihrem mit 'Vita' betitelten Beitrag einen privaten Blick auf die Kultur wirft. Wie in einem Spiegel wirken die Notizen auf den Zettel in den zwei Behältnissen. In diesen Karteikarten bildet sich die Realität des Betriebssystems Kunst ab und wird gleichzeitig in Frage gestellt. 

Da ist es dann hilfreich, wenn man auf die 'Kleine Erfrischung bzw. den 'Softdrink Global' von Josina von der Linden zurückgreifen kann, hergestellt aus gewachsten Seidenpapier,  getrockneten Eiweiß, Flugsamen  und Haarnetz sowie einem Trinkhalm. Der Hintergrund für diese Arbeit berührt ganz direkt eine Kernfrage. nämlich die der Sicherung der Welternährung. Schon lange gibt es Bestrebungen, den Bedarf an Protein, einem essentiellen Bestandteil der Nahrung, aus alternativen Ressourcen, wie z. B. Erdöl, Soja oder Insekten, zu gewinnen.


Aber die Kernfrage kann auch ganz anders beantwortet werden, in aller plastischen Buchstäblichkeit, wie es Stephanie Mohnhaupt in ihrem Beitrag tut.  Hier handelt es sich nicht um des Pudels Kern, sondern um Orangenkerne, die die Künstlerin nachgeformt hat, vom Mund auf die Arbeitsplatte ihres Ateliers: "Jedes Objekt enthält ein eigenes, voll ausgestaltetes Innenleben. Die äußeren Schalen habe ich zuerst gestaltet, dann das Innenleben. Die Tonerde habe ich so bearbeitet, daß sie sich von innen an die gekrümmten Schalen der Apfelsinenkerne anschmiegt." Hier wird die Kernfrage sozusagen materialisiert und ähnliches  mag man auch in der Skulptur von Anke Eilergerhard  sehen oder ist es nur das unendliche Kreisen um die Frage nach der Realität, die hier zur Darstellung kommt und scheinbar kein Ende finden kann. Zitieren wir den Kollegen Christoph Tannert: „Anke Eilergerhards Figuren und Objekte loten die Bedingungen unserer zivilisatorischen Übereinkünfte und Hintergründe dort aus, wo sie beginnen:
in den Körpern, unseren Schönheitsvorstellungen, kulturellen Verordnungen und Verortungen im Raum.“


Die Brüchigkeit dieser Übereinkünfte stellt das Gemälde 'Your house' von Alfons Pressnitz in seinem Beitrag dar. Die aufgebrochene Fassade offenbart das Innere und deren Gegenstände, die scheinbar den Weg nach draußen suchen. Gleichzeitig verweist das Gemälde auch auf sein Gegenüber in den zwei Fotografien von Dagmar Tränkle, deren dokumentarischer Gehalt durch Gestalt und Farbgebung aufgebrochen wird. Als Reminiszenz gemahnen die Abbildungen an die allgegenwärtige Einflußnahme des Menschen und seine machtpolitischen wie auch kompromißlosen ökonomischen Interessen. Sie werfen die Frage nach der Essenz anthropogener Intervention auf, die sich als sichtbare Spur oder Wunde im Erinnerungsfeld der Erde niederschlägt.


So wird das Bild gleichzeitig eine Reverenz an die Möglichkeiten der Fotografie und der Malerei. Welche Medium ist der Realität angemessener?


Vielleicht brauchen wir auch ein Moment der Ruhe, wie er sich in der Skulptur des Hasen zeigt von Helen Acosta Iglesias mit dem Namen 'Claudia'. Dem Objekt liegt eine Aussage zugrunde aus deutschen Aberglaube: 'Wenn jemand Selbstmord begeht, sich erhängt, so geistert seine Seele als dreibeiniger Hase ruhelos umher ́. Ultima ratio oder Rettung? Und plötzlich sehen wir das Gespräch von Joseph Beuys mit dem toten Hasen in einer ganz anderen Perspektive. 


Todeserfahrung finden wir auch in dem Video von Jörg Laue, das unter dem Titel 'Paso Doble' eine Corrida an ihrem blutigen Ende zeigt. Die in einem Prozeß digital-analoger Transformationen erzielte „defizitäre“ Bildqualität des Videos rückt das Medium selbst in den Fokus und unterstreicht damit jene Distanznahme von dem aufwühlenden Geschehen, die den Raum für eine künstlerische Auseinandersetzung eröffnet.


Die Skulptur an der Wand von Ev Pommer mit dem schönen Titel 'Feld', ist gleichzeitig poetische Metapher  und mögliches Abbild der Kernkräfte in einem Atomkern. Dabei spielen die Grenzen von Sichtbarem und Unsichtbarem, Anwesenheit und Abwesenheit, wie auch die Polarität von Innen und Außen eine wichtige Rolle. Das 'Feld' antwortet auf die 'World Map' von Özlem Dalga, handgeknüpft von der Künstlerin. In den Fäden zeigt sich die World Wide Web in seiner unentdeckten Fragilität. Und die Kernfragen lassen sich wohl nur in der Spannung zwischen dem ganz Kleinen und den ganz Großen lösen, in dem Bereich zwischen Mikro und Makro. Wir wollen hoffen, daß diese Ausstellung einen Beitrag dazu leisten kann.





Ich danke Ihnen









 




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