Tagedieb

15. Mai 2011 / Eingestellt von thw um 14:56 /



'Wien, du hast es besser...' könnte man jetzt ausrufen angesichts dieser Arbeit im Graben von Wien, einer belebten Einkaufsmeile.
Dabei handelt es sich um ein Werk für den öffentlichen Bereich, erstellt von Cosima von Bonin. So viel Witz hatte ich ihr garnicht zugetraut.

"TAGEDIEB"
Temporäre Installation 7. Mai – 31. Oktober 2010
Ort:
Graben, Höhe Nr. 17/21
Größe:
Grundfläche: ca. 2x2 Meter Höhe: ca. 6 Meter Größe der Figur: ca. 1,20 Meter
Verwendete Materialien:
Glasfiber, Styroporkern, Aluminium, Plexiglas, LED-Beleuchtung, Rohstahl verzinkt, Neonlampe"




Und hier Texte zur Erläuterung:

Einleitung

An einem der zentralsten Orte der Stadt, dem Wiener Graben, wird ab 7. Mai 2010 ein neuer, permanenter Ort für Kunst im öffentlichen Raum eingeweiht, der in der Folge jedes Jahr neu bespielt wird. Das erste Werk für diesen Ort ist die Installation TAGEDIEB von Cosima von Bonin.

Mit Cosima von Bonin konnte die Institution KÖR – Kunst im öffentlichen Raum – eine der international renommiertesten Künstlerinnen der mittleren Generation gewinnen, eine Arbeit für den öffentlichen Raum in Wien zu schaffen. Bonins Arbeit reagiert eindrucksvoll auf das geschäftige Treiben und den histori(sti)schen Charakter der Umgebung. Mit TAGEDIEB wird der Graben zu einem neuen Ort für die Auseinandersetzung mit Kunst im öffentlichen Raum. Kuratorisch verantwortlich für diese Installation zeichnet Matthias Herrmann.

Die 1962 in Kenia geborene und in Köln lebende Cosima von Bonin zeigte im Jahr 2007 einen vielbeachteten Werkblock auf der documenta 12 in Kassel und war in einer Einzelausstellung im Museum of Conteporary Art in Los Angeles präsent. Im Sommer 2010 widmet ihr das Kunsthaus Bregenz eine Personale, im Herbst schließt das Witte de With in Rotterdam mit einer Einzelausstellung an.

Cosima von Bonins sechs Meter hohe, in weisser Farbe gehaltene Installation am Graben verwendet Zitate aus der Populär- und Alltagskultur. Eine unschwer als Pinocchio erkennbare Figur sitzt auf einem Hochsitz und betrachtet müßiggängerisch die Umgebung. Cosima von Bonins Arbeit ist leicht rezipierbar ohne auf inhaltlich zugespitzte Kommentierung zu verzichten. Damit ist diese Arbeit für den hoch frequentierten und architektonisch wie städtebaulich besonders bemerkenswerten innerstädtischen
Ort prädestiniert und wird für lebendige Diskussionen sorgen.


Auf Initiative der Stadt Wien wurde im Zuge der Neugestaltung des Grabens dieser Ort (Höhe Graben 17/ 21) für Kunst im öffentlichen Raum gewidmet. Der Forderung von KÖR nach spannenden Plätzen für die Auseinandersetzung mit Kunst im öffentlichen Raum wird damit Rechnung getragen.
Der für Stadtentwicklung zuständige Stadtrat DI Rudi Schicker über die Installation: „Kunst im öffentlichen Raum bringt Kunst den Menschen näher und wertet gleichzeitig unsere Straßen und Plätze auf. Kunstobjekte sind Anziehungs- und Treffpunkt, bieten aber auch ausreichend Gesprächstoff und so Gelegenheit für spontane Kommunikation. Dies macht den öffentlichen Raum lebendig. Der TAGEDIEB von Cosima von Bonin wird ebenso irritieren wie zum Schmunzeln anregen, gefallen und natürlich auch aufregen. Aber das war, ist und wird auch in Zukunft die Aufgabe von Kunst sein."
Auch Kulturstadtrat Dr. Andreas Mailath-Pokorny freut sich über die Skulptur: „Der Graben ist ein Zentrum der Geschäftigkeit, ein Ort, der in gewisser Weise repräsentativ für das Wien-Bild vieler BesucherInnen ist. Die Intervention von Cosima von Bonin lädt nun ein, dieses Bild zu hinterfragen und zu reflektieren, und zeigt damit, was Kunst im öffentlichen Raum leisten kann: Die Welt mit anderen Augen zu sehen und uns auf neue Ideen bringen."


Zum TAGEDIEB von Cosima von Bonin

Kuratorenstatement

Für ihre Installation am Wiener Graben verwendet Cosima von Bonin wie schon in früheren Arbeiten Zitate aus der Populär- und Alltagskultur und verändert deren ursprüngliche Bedeutung, indem sie mehrere Bedeutungsebenen collagenhaft miteinander verbindet.
Auf einem Hochsitz – angesiedelt zwischen Tennisschiedsrichterstuhl und Aussichtsplattform – hockt eine Figur, deren vom vielen Lügen stark verlängerte Nase uns sofort an Pinocchio denken lässt. Am Ende der Nase baumelt eine Spinne an einem Faden. Eine mit einem Bewegungsmelder versehene Maiglöckchenlampe (das gleiche Modell, das den gesamten Graben ziert), beleuchtet die Szene von hinten.

Durch den Titel der Arbeit, TAGEDIEB, schlägt Cosima von Bonin eine Lesart vor: Mitten im, dem Konsum gewidmeten Zentrum Wiens sitzt ein kleiner Taugenichts und betrachtet müßiggängerisch das geschäftige Treiben um sich herum. Nicht nur, dass er die Tage stiehlt, in dem er nichts tut außer zu sitzen und zu beobachten, konsumiert er nicht, ist er kein „guter Bürger“ und lügt dabei auch noch – was man an seiner verlängerten Nase unschwer erkennt. Nähert man sich ihm, so erleuchtet man ihn, verleiht ihm und seiner „nutzlosen“ Anwesenheit noch mehr Aufmerksamkeit.

Auch wenn über den Titel eine Interpretationsrichtung vorgeschlagen wird, so ist der Titel in erster Linie als Wegweiser zu verstehen. Bonin nutzt die von ihr verwendeten Versatzstücke und deren Materialität souverän, um eine unmittelbar wahrnehmbare ästhetische Setzung vorzunehmen; gleichzeitig entsteht durch die Melange von Elementen, die a priori in keinem Sinnzusammenhang stehen, ein Mikrokosmos, der sich einer „endgültigen“, auf einen klaren Nenner reduzierenden Interpretation entzieht.

Seine Bekanntheit und gleichzeitig seine Fremdheit im histori(sti)schen Ensemble ermöglichen dem Tagedieb, sich zu unser aller Komplizen zu machen, schillernd zwischen Irritation, Nähe und Verführung. Cosima von Bonin, die zu Beginn ihrer künstlerischen Arbeit Partizipation vor allem als Werkzeug einer Gruppe Gleichgesinnter begriffen hat, erweitert mit ihren aktuellen Arbeiten – gerade wenn sie den öffentlichen Raum besetzen – diesen Aktionsradius, indem sie aus Versatzstücken, die wir alle mit individuellem „Sinn“ belegen können, komplexe Gebilde schafft.
Matthias Herrmann





Zu den Arbeiten von Cosima von Bonin

Die Arbeiten von Cosima von Bonin (geboren 1962 in Mombasa, Kenia, lebt und arbeitet in Köln) entziehen sich einer Festschreibung auf einen klar definierten Werk- und Kunstbegriff. Sie arbeitet sowohl in klassischen Feldern wie Skulptur, Fotografie und Tafelbild (auch wenn ihre „Lappen“ aus im Patchworkverfahren bearbeiteten Stoffen bestehen) als auch in neueren bzw. von ihr (weiter-)entwickelten Bereichen wie Film, Installation, Performance und Theater. Private und subjektive Erfahrungen und Einflüsse setzt von Bonin in ein Spannungsfeld der Auseinandersetzung mit Künstlerkollegen und der jüngsten Kunstgeschichte. Aber auch Fäden zu Populärkultur und Mode werden gesponnen – in von Bonins Werk scheint keinerlei Hierarchie zwischen High und Low zu herrschen.

Konsequent dekonstruiert Cosima von Bonin das klassische Bild des Künstlers als monokratisch schaffendem Autor, indem sie mit Kollegen wie Kai Althoff oder Dirk von Lotzow zusammenarbeitet oder das Ausstellen als kollaborative Praxis begreift.
Die vielfältigen von ihr verwendeten künstlerischen Strategien veranlassten Karola Kraus, designierte Direktorin des MUMOK, von Bonin zur würdigen Nachfolgerin Martin Kippenbergers zu deklarieren: „Er hat alles, was ihn umgeben hat, zu Kunst gemacht. Und das macht Cosima von Bonin auch. Sie greift ihre Kunst aus dem Alltag“. Bei aller Referentialität ist die Verwendung des Alltags als Material jedoch nicht als selbstbezügliche Geste mißzuverstehen: zu ernsthaft ist die Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Betriebssystems Kunst und zu offen der Bezug zu anderen künstlerischen Bereichen. Die Vielfältigkeit der Bezüge und der unterschiedlichen Ebenen und Materialien, mit denen von Bonin operiert, führen dazu, dass die Arbeiten sich einer eindimensionalen Bedeutungszuschreibung verwehren. Der Choreographie unterschiedlicher Einflüsse in der Erschaffung der Werke steht eine ebenso große Freiheit im Erleben und Begreifen der Arbeiten gegenüber.

Als eine der zentralen Positionen der documenta 12 in Kassel (2007) sind von Bonins Arbeiten spätestens seit diesem Zeitpunkt einem breiteren Publikum bekannt. „Roger & Out“, ihre große mid-career Retrospective im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, etablierte von Bonin auch in den USA als eine der zentralen Persönlichkeiten ihrer Generation. Im Sommer 2010 widmet ihr das Kunsthaus Bregenz eine große Einzelausstellung, 2011 folgt eine Einzelausstellung im Museum Ludwig Köln.

Cosima von Bonin
Biografie
geboren 1962 in Mombasa, Kenia lebt in Köln

Einzelausstellungen (Auswahl)
2011 Museum Ludwig, Köln Musée d’Art Moderne et Contemporain, Genève Mildred Lane Kemper Art Museum, St.Louis Friedrich Petzel Gallery, New York Galerie Daniel Buchholz, Berlin Arnolfini, Bristol
2010 Witte de With, Rotterdam “The Fatigue Empire”, Kunsthaus Bregenz
2008 “if? if?”, Galerie Daniel Buchholz, Köln 2007 “Roger & Out”, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles
2006 “Relax It’s Only a Ghost”, Friedrich Petzel Gallery, New York
2004 “2 Positionen auf Einmal”, Kölnischer Kunstverein, Köln
2003 “Kalt Modern Teuer”, Friedrich Petzel Gallery, New York
2001 “Bruder Poul sticht in See”, Kunstverein Hamburg
2000 “The Cousins”, Kunstverein Braunschweig
1993 American Fine Arts, New York
1990 Ausstellungsraum Münzstrasse 10 (mit Josef Strau), Hamburg
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2010 Galerie Daniel Buchholz, Köln 2009
“Collecting History: Highlighting Recent Acquisitions”, The Museum of Contemporary Art,
Los Angeles “Compass in Hand: Selections from the Judith Rothschild Foundation Contemporary Drawings Collection”, Museum of Modern Art, New York
2008 “Eyes Wide Open”, Stedelijk Museum, Amsterdam
2007 documenta 12, Kassel
2006 “Make Your Own Life: Artists In and Out of Cologne”, Institute of Contemporary Art, University of Pennsylvania, Philadelphia
2005 “The Blake Byrne Collection”, Museum of Contemporary Art, Los Angeles
1996 “Glockengeschrei nach Deutz. Das Beste aller Seiten”, Galerie Daniel Buchholz, Köln,“NowHere”, Louisiana Museum of Modern Art, Copenhagen
1995 “1. Grazer Fächerfest”, Forum Stadtpark Graz
1993 “Parallax View: New York – Köln”, P.S.1 Museum & Goethe House, New York
“Kontext Kunst”, Künstlerhaus Graz Galerie Daniel Buchholz, Köln


KÖR – Kunst im öffentlichen Raum

Die Aufgabe von KÖR – Kunst im öffentlichen Raum ist die Belebung des öffentlichen Raums der Stadt Wien mit permanenten bzw. temporären künstlerischen Projekten. Die Idee ist, die Identität der Stadt und einzelner Stadtteile im Bereich des Zeitgenössischen zu stärken sowie die Funktion des öffentlichen Raums als Agora – als Ort der gesellschaftspolitischen und kulturellen Debatte – wieder zu beleben. KÖR versteht Kunst im öffentlichen Raum nicht als Dekor, sondern als Angebot zur Auseinandersetzung mit Inhalten und radikalen ästhetischen Setzungen sowie als symbolische Markierung bislang kulturabstinenter Territorien. Die Realisierung von Kunstprojekten im öffentlichen Raum gilt als wichtiger Aspekt der Kulturarbeit, ebenso deren Vermittlung und Dokumentation.
„Kaum eine andere Form der Kunst ist so leicht und so vielen Menschen zugänglich wie die Kunst im öffentlichen Raum. Sie beeinflusst das Stadtbild, belebt den öffentlichen Raum, stärkt die Identität einzelner Stadteile und ermöglicht allen WienerInnen und BesucherInnen einen niedrigschwelligen Zugang zu zeitgenössischer Kunst.“ (Mag. Bettina Leidl, Geschäftsführerin KÖR).
Für die Projekteauswahl in den Jahren 2007 bis Sommer 2010 zeichnet eine fünfköpfige Jury, bestehend aus Tobia Bezzola (Kurator Kunsthaus Zürich), Berthold Ecker (Kulturabteilung Stadt Wien), Adolf Krischanitz (Architekt), Sabine Oppolzer (Kunst- und Architekturredakteurin, Ö1) und Anda Rottenberg (Kunsthistorikerin und –kritikerin).
Zuletzt wurden die KÖR-Projekte Et tu, Duchamp? des Inders Subodh Gupta am Kunsthalle Wien public space Karlsplatz (28. April – 31. Oktober 2010) sowie die permanente Intervention Transkription am Thury-Hof, Wien 9. von Marie-Therese Litschauer, die den durch KÖR ausgelobten Wettbewerb gewonnen hat, eröffnet.
Zur Zeit läuft ein Wettbewerb zur künstlerischen Neugestaltung des Turnerplatzes im 15. Bezirk. Am Turnerplatz befand sich eine Synagoge, die in der „Reichskristallnacht“ von Nationalsozialisten zerstört wurde. Die Eröffnung des künstlerischen Projekts ist im Herbst 2011 geplant.
Eine vollständige Projektliste samt Beschreibungen ist auf www.koer.or.at zu finden.

Ebenso auf der Website ist ein stetig anwachsendes Archiv über Kunstprojekte im öffentlichen Raum in Wien seit 1968 eingerichtet (www.koer.or.at/index/).


Cosima von Bonin, TAGEDIEB (Detail), 2010 © Fotos: Ulrike Wagendorfer, 2010

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