Gerade hereingekommen: Das Politeske

29. März 2010 / Eingestellt von thw um 10:14 /

Lesenswert, von vorne bis hinten und wieder zurück:

kritische berichte Heft 1/2010 Jahrgang 38

Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften Mitteilungsorgan des Ulmer
Vereins - Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V.

Das Politeske / The Politesque

Inhalt / Content

Joseph Imorde / Anne Röhl
Editorial 3

Marc Glöde
Über das Verhältnis von Politik und Ästhetik in den Künsten 5

Roland Meyer
Politik der Unbestimmtheit. Jacques Rancière und die Grenzen des
ästhetischen Regimes 19

Ursula Frohne
Paradoxa des Politischen 33

Jörg Scheller
Keine Angst, der will nur spielen!
Oder: Wie Jonathan Meese mit seiner Forderung nach einer Diktatur der Kunst
den deutschen Idealismus in die Postmoderne rettet 49

Lars Stamm
Julian Rosefeldts American Night 59

Sonja Lesniak
E-Gitarre und Maschinengewehr - das Politeske bei Daniel Richter 68

Magnus Schäfer
Enttäuschte Erwartungen - Politisch besetzte Motive in Martin Kippenbergers
Malerei der frühen 1980er Jahre 75

Susanne König
Sigmar Polkes Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen 87

Michaela Ott
Ästhetische Politiken 97

Anne Röhl
"As political as possible." - Überpolitisierung der Kunst zu sehen bei
Bata-ville 111

Anne Röhl
Interview mit Nina Pope und Karen Guthrie 121
Schriftgrad


Joseph Imorde / Anne Röhl
Das Politeske / Editorial

Das Heft "Das Politeske" geht zuerst einmal von der grundsätzlichen Annahme aus, dass jedes künstlerische Werk seinen spezifisch politischen Ort hat und dass sich dieser Ort definieren und kulturhistorisch beschreiben lässt. Auf dieser sehr allgemeinen Grundlage wird das zerklüftete Gelände der politischen Kunst des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zuerst einmal grobflächig kartiert (Marc Glöde), um in der Folge das Feld des politisch Grotesken oder grotesk Politischen theoretisch und praktisch abzustecken. Der Fokus des Heftes liegt vor allem auf einzelnen Positionen, Positionen, die sich vermeintlich kritisch mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auseinandersetzen und/oder als "sozial engagierte" Kunst versuchen, in irgendeiner Weise weltverbessernd auf diese Wirklichkeit ein- und zurückzuwirken. Neben der Verortung der jeweiligen politischen Position steht das Problem der Öffentlichkeitsbildung im Zentrum, das heißt die Frage, mit welchen medialen Strategien die künstlerisch vorgetragene Widerständigkeit immer wieder inszeniert und ihr damit der Markt bereitet wird. Es geht um das problematische Wechselverhältnis von Kritik und Affirmation, es geht aber auch um das dialektische Miteinander von Verweigerungspathos und Aufmerksamkeitsgenerierung, um ein Miteinander also, das sich heute nur zu oft in künstlerischen Arbeiten aufgehoben findet: Schock, Albernheit, Absurdität – alternative Lebensformen, Gruppenbildungen, Retro-Nostalgie, eskapistische Überdetermination oder Überpolitisierung, all das und noch viel mehr soll hier mit dem Begriff des Politesken umrissen werden. Von Interesse waren und sind die öffentlichen Hybridisierungen (ehemals definierter) ideologischer Inhalte, die medialen Theatralisierungen modisch gewordener Renitenzen, die künstlerisch-imitativen Akte politischer Handlungsmuster, aber auch die sich als Revolution gerierenden Umarmungen des Marktes von den gesellschaftlichen Rändern aus. Ziel des Heftes ist es, die Heterogenität des Politischen auch in der gegenwärtigen Kunst zu konturieren und das grotesk Politische oder politisch Groteske heutiger Ansätze als Problem auszustellen. Das Heft entstand in Zusammenhang eines Projektseminars der Universität Siegen, das dem "Politischen in der Gegenwartskunst" gewidmet war. In dieser Veranstaltung wurde sehr schnell deutlich, dass sich etwa die von Jacques Rancière der Kunst zugewiesene Fähigkeit der "Neuaufteilung des Sinnlichen" ideengeschichtlich als durchaus diskutierbares Wiedergängertum beschreiben lässt (Roland Meyer), dessen gesellschaftliche Wirkmacht in heutiger Zeit eher zu vernachlässigen wäre, an dessen Diskurs- und Marktwirksamkeit aber in den letzten Jahren schwerlich vorbeizusehen und vielleicht noch schwerer vorbeizudenken war. Den Reanimationen tradierter Vorstellungen in neuen und neusten Versuchen, den Zusammenhang von Politik und Kunst zu theoretisieren, kommt ja heute oft auch etwas konkret Groteskes zu. Das lässt sich beispielhaft an dem albern kindlichen oder auch lächerlich clownesken Jonathan Meese zeigen, dessen schockant spielerisches Gerede von der "Diktatur der Kunst" womöglich wirklich nichts anderes ist, als eine sich im Spektakel kaschierende Exhumierung Schillerscher Ideen (Jörg Scheller). Das 'schillernd' Provokante der Oberflächen – bei Jonathan Meese 'moralin' hingerüpelt, bei Julian Rosefeldt 'brechtig' aufpoliert (Lars Stamm) – erlaubt es, die künstlerischen Verfahrensweisen in ihrer ideologischen Ort-, Harm- und Haltlosigkeit als politesk zu bestimmen. Dass diese sich ironisch verwitzelnden Strategien eines sich engagiert gebenden Heraushaltens auch im 20. Jahrhundert nicht ohne wichtige Beispiele und Protagonisten waren, machen Beiträge zu dem gerade als "Kleinbürger" gegenwärtigen Sigmar Polke (Susanne König) oder auch zu dem als Erzironiker gehandelten Martin Kippenberger (Magnus Schäfer) deutlich. Vor allem Kippenbergers Bilder der frühen 80er Jahre - wie etwa 'Krieg böse' - strapazieren jeden Anspruch auf Ernsthaftigkeit und weisen auf eine sich im klugen Witz camouflierende Entfremdung von dem, was in jenen Jahren vielen Künstler/innen als ideologisch konsensfähig und opportun erschien - also etwa ein auch medial demonstriertes 'linkes' Engagement in der Friedens- oder Antikernkraftbewegung. Doch lassen sich dem damit angesprochenen Vorwurf der politesken Indifferenz auch zeitgenössischer Kunst nun Praktiken entgegenhalten, in denen sich politisches Handeln in spontanen, kurzlebigen Aktionen und in einer flexiblen Programmatik manifestieren, in ästhetischen Politiken, deren Potential sich etwa anhand der Leerung bekannter Codes, anhand der differentiellen Modulierung überkommener Formen oder auch anhand der Markierung bislang ungesehener Räume eröffnet (Michaela Ott). Eine vermengende Neubewertung der Werte oder auch ein selbstverrätselndes Zusammenbacken ehemals distinkter Codes lassen sich etwa in den Malereien Daniel Richters ausmachen, dessen Bildsprache wie Ideologie irgendwo zwischen E-Gitarre und Maschinengewehr angesiedelt sind und dem Glück einer global vermarktbaren Privatheit nachzugeben scheinen (Sonja Lesniak). Die fließend gewordenen Räume des Ideologischen wie auch die medial handhabbar gemachten Märkte des Kritischen zeitigen heute kreative Widerständigkeiten und bisher unbekannte Koalitionsbildungen, kurz gesagt unorthodox sich positionierende Haltungen, wie etwa jene der britischen Künstlerinnen Karen Guthrie und Nina Pope, die seit den 1990er als Künstlerkooperation Somewhere Kunst produzieren (Anne Röhl). Der Name dieses Unternehmens kann dem vorliegenden Heft gleichsam als Motto dienen, denn mit dem "Politesken" sind die kritischen berichte - wieder einmal - auf der Suche nach einem heutigen Ort des Politischen, einem Ort, der wohl in einem Irgendwo zwischen Engagement und Affirmation, zwischen Widerstand und Markt aufzufinden wäre, einem politischen Ort damit, den es durch die Kunst und ihre Theorie offenbar immer wieder neu und immer wieder anders einzunehmen und zu definieren gilt.

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