Zeit zum Lesen

19. Dezember 2008 / Eingestellt von thw um 22:16 /

Wo waren Sie, als Elvis starb


Außer ihm habe ich noch nie einen Sänger zu Gesicht bekommen, der mich sexuell stimulierte; es war keine richtige Erregung, eher eine Erektion des Herzens: wenn ich ihn ansah, trieben mich Sehnsucht und Neid, Ehrfurcht und Identifikationsdrang zur Raserei. Selbst Mick Jagger, den ich schon 1964 und dann noch zweimal 1965 gesehen habe, kam da nicht entfernt mit.
Da stand Elvis, kostümiert mit diesem lächerlichen weißen Anzug, in dem er aussah wie eine Zwingburg aus König Arthurs Zeiten. Er war zu dick, und seine Gürtelschnalle war so groß wie Ihr Kopf, bloß daß Ihr Kopf nicht aus reinem Gold ist, und jeder Geringere hätte in diesem Aufzug wie die Karikatur eines Neil-Diamond-Verschnitts ausgesehen, doch Elvis stand er. (...)
Elvis war ein gottverdammter Lastwagenfahrer, der seine Mutter anbetete und in ihrer Nähe niemals Scheiße oder Ficken gesagt hätte, und doch stieß Elvis Amerika mit der Nase auf die Tatsache, daß es einen Unterleib hatte, dessen kategorischen Forderungen unerfüllt geblieben waren. (...) Gegenwärtig herrscht sexuelles Chaos, aber aus dessen Strom könnten dereinst echtes Verständnis und Harmonie entspringen; wie dem auch sei, Elvis hat fast im Alleingang die Schleusen geöffnet. An jenem Abend in Detroit, einem Abend, den ich nie vergessen werde, brauchte er nur das kleinste bißchen mit einem Schultermuskel zu zucken, nicht einmal mit den Achseln, und schon schrien die von seinem Bannstrahl getroffenen Mädchen im Rang auf, fielen in Ohnmacht und heulten vor Erregung. Jedesmal, wenn dieser Mann irgendeinen Körperteil auch nur um den Bruchteil eines Zentimeters bewegte, gerieten zehn oder zehntausend Leute buchstäblich außer Rand und Band. Sinatra, Jagger, die Beatles - auch Ihnen fällt bestimmt keiner ein, der jemals eine solche Massenhysterie ausgelöst hätte. Und das nach anderthalb Jahrzehnten beschissener Platten, Jahrzehnten, in denen Elvis es darauf anlegte, sich ja nicht zu überanstrengen.
Sollte die Liebe wirklich für immer aus der Mode kommen, was ich nicht glaube, dann wird sich zu unserem allseits gepflegten Desinteresse an unseren Mitmenschen ein noch verächtlicheres Desinteresse an unseren jeweiligen Objekten der Verehrung hinzugesellen. Ich fand, es war Iggy Stooge, Sie fanden, es war Joni Mitchell oder wer auch immer Ihre persönlichen, oft schmerzlichen und selten ekstatischen Lebensumstände an einem genau definierten Punkt musikalisch am besten zu beschreiben schien. So werden wir uns weiter vereinzeln, weil im Augenblick alles für den Solipsismus spricht; er ist ein König, dessen Macht selbst die von Elvis übertrifft. Aber eines kann ich Ihnen garantieren: Nie wieder werden wir uns über etwas so einig sein wie über Elvis. Deshalb mache ich mir jetzt gar nicht die Mühe, mich von seinem Leichnam zu verabschieden. Ich verabschiede mich lieber von Ihnen.


Verdammt gute Schreibe hatte er, Lester Bangs und hier gibt es mehr davon:



Bangs, Lester:
Psychotische Reaktionen und heiße Luft.
Greatest Hits
Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll

Herausgegeben von Greil Marcus

Übersetzt von Astrid Tillmann, Peer Schmitt, Teja Schwaner u.a.

Edition Tiamat
Critica Diabolis 162

Paperback, 400 Seiten
19.80 Euro, 35.90 SFr.
ISBN: 3-89320-127-0

Und wer ist die oder Lester Bangs der Kunstkritik?

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