Aus gegebenem Anlaß

7. Mai 2012 / Eingestellt von thw um 12:32 /



Die Poesie der Pfütze
André Cartier-Bresson  im Kunstmuseum Wolfsburg
Es ist eine Pfütze, eine ziemlich große zugegebenermaßen, aber würde der Mann auf dem Foto einen Tümpel überspringen wollen? Henri Cartier-Bresson hat ihn im richtigen Augenblick  festgehalten. Die Spiegelung ist noch nicht aufgebrochen durch das Eintauchen des noch in der Luft schwebenden linken Fußes. Damit wir als Betrachter die Szene nicht mißverstehen, hat der Fotograf im Hintergrund einen Artisten auf dem Hochseil in ähnlicher Pose abgelichtet. Zu entdecken ist er auf Plakaten eines Zirkus, der gerade vor Ort gastiert. So wird aus dem 'Schnappschuß' an der Pont de L'Europe im Paris des Jahres 1932  die Choreographie eines seltsamen Balanceaktes, die ebenso graphische Qualitäten aufweist. Und der Betrachter wird die nächste Pfütze , die seinen Gang kreuzt, mit einem geschärften Bewußtsein überschreiten. Das choreographische Moment ist vielleicht jenes Distinktionselement, daß das gesamte Werk von Henri Cartier -Bresson von anderen 'Lichtbildnern' unterscheidet. 
Denn Choreographie ist Besetzung und Gestaltung von Raum. Ganz zu Recht verstand sich Henri Cartier-Bresson mit einer großen Leidenschaft für die Malerei als Kubist. Und die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg erinnert an diesen Hintergrund, indem sie auch Zeichnungen aus der Hand des Fotografen integriert. So zeigt fast jede Fotografie aus seiner Hand ein Gefühl für Raum, daß das relative junge Medium zu dem Zeitpunkt noch nicht entwickelt hatte. Das mag auch zurück zu führen auf leichtes Gepäck, eine  Leica, die schnell zur Hand war und ebenso schnell wieder 'untertauchen' konnte. So kann Cartier-Bresson  denn auch zu Recht  sagen: "...ich hatte die Leica entdeckt: Sie wurde die Verlängerung meines Auges und verließ mich nicht mehr." Die Konzentration auf die Komposition in den Photoarbeiten überzeugt. Cartier-Bresson hat dazu festgestellt: "Man muß seinen Apparat im Raum in ein Verhältnis zum Gegenstand bringen; hier beginnt das weite Feld der Komposition." Trotz dieses Anspruch überschreiten seine besten Fotoarbeiten die spezifische Konstruktion. Der Apparat ist die Erweiterung des Auges, in Worten Cartier-Bressons: "Das Auge schneidet das Motiv aus und der Apparat hat nur seinen Dienst zu tun, das heißt, die Entscheidung des Auges auf den Film zu bringen."
Aber ohne jenen 'entscheidenden Augenblick', den 'l'instant decisif', hätten die Photoarbeiten nicht jene Präsenz, die sie noch heute behaupten. Und es bleibt ein Erstaunen angesichts des festgehaltenen Moments, wie dem des enteilenden  Mädchens auf den Treppen der Kykladeninsel Sifnos. Auch hier wie in anderen Fotografie steht der Betrachter davor und kann nur den entscheidenden Augenblick bewundern: drei Jungen spielen exakt auf der Schattenlinie einer zu ahnenden Kirche im Rom des Jahres 1959. Das choreographische Moment ist überzeugend: der Mensch definiert den Raum, aber der Raum auch ihn. Besaß Henri Cartier-Bresson eine besondere Wahrnehmungsintensität, die es ihm ermöglichte, das Geschehen vor seinen eigenen Augen oder der Kameralinse  vorauszusehen? Tatsächlich wird die Bewegung ja im Photo festgehalten, je nach Blende und Belichtungszeit. Der Mann an der Pont de L'Europe wird  so eine verwischte Silhouette in einer Landschaft, die man als solche nicht benennen will.
Das gilt sicherlich auch für die Bilder der neu erichteten Mauer im Berlin des Jahres 1962. An der Ecke Bernauer Straße und Wolliner Straße im ehemaligen West-Berlin begegnen sich ein Westberliner Polizist mit Gewehr über dem Rücken und ein Kriegsinvalide: ein Dokument von doppelter Bedeutung. Denn der Mauerbau ist auch ein Ergebnis des 2. Weltkriegs. Cartier-Bresson ist in diesem Falle ein dokumentarisches Bildnis gelungen, obwohl es schwer fällt, seine Kunst als eine rein dokumentarische zu verstehen. Was sagte er zum leeren Marktplatz in Siena? : „Beim Museumsbesuch schaute ich zufällig aus dem Fenster und sah diesen leeren Marktplatz, dessen Untätigkeit intensiv war“. Vielleicht muß man die Kunst dieses Fotografen als ein Realismus im Sinne Cartier-Bressons verstehen.
Das mag auch an der Präsentation der Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg liegen. Die einzelnen Kabinette konzentrieren die Wahrnehmung und lassen den Lärm draußen vor der Tür. Aber Cartier-Bresson agierte auch als homo politicus, was sich auch darin beweist, daß er Mitgründer der Photoagentur Magnum war. Das Kunstmuseum Wolfsburg schließt mit der Präsentation des Werke von Henry Cartier-Bresson an andere  Ausstellungen mit Werken von Künstler-Fotografen. Aber unter diesen ist Cartier-Bresson, geboren 1908 und gestorben 2004,  der Foto-Künstler par excellence.  

Thomas Wulffen erschienen in der Neuen Züricher Zeitung

           Die Ausstellung schließt dieses Wochenende


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