Gegen das Kino, für die Piraten
19. Oktober 2007 / Eingestellt von thw um 14:35 /
Lesen und hingehen und gucken!
Sunday, October 21, 7 pm
Pirate Cinema Berlin
Tucholskystr 6, 2nd fl
Against Cinema
Part 2
Guy Debord
Vorfilm
7:00 pm: Le film est déjà téléchargé? (2004)
30 min, 222 MB
7:30 pm: Hurlements en faveur de Sade (1952)
8:30 pm: La société du spectacle (1973)
10:00 pm: Réfutation de tous les jugements, tant élogieux qu'hostiles,
qui ont été jusqu'ici portés sur le film 'La société du spectacle' (1975)
10:20 pm: Sur le passage de quelques personnes à
travers une assez courte unité de temps (1959)
10:40 pm: Critique de la séparation (1961)
11:00 pm: In girum imus nocte et consumimur igni (1978)
Französisch mit
englischen Untertiteln
303 min, 2.3 GB
Nachfilm
0:30 am: Guy Debord, son art et son temps (1995)
60 min, 700 MB
Free entry
Cheap drinks
Copies to go
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Der schlechte Ruf, den Guy Debord Zeit seines Lebens genossen hat, droht in
einer Nachwelt, die ihn als ersten Kritiker des Spektakels und letzten Strategen
des Mai 68 verehrt, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Für den Fall jedoch, dass
es eines Tages noch einmal nötig werden sollte, auf Debord zurückzukommen, wird
sich zeigen, dass im selben Masse, wie seine Schriften im Zuge ihres allgemeinen
Erfolgs obsolet geworden sind, seine Filme in Folge ihres grandiosen Misserfolgs
brauchbar bleiben. Dass Debord nie einen seiner Texte zurückgezogen, sein
gesamtes cinematographisches Werk aber vorzuführen untersagt hat <1>, zeugt vor
allem von seiner Ahnung, dass mit den Filmen noch einmal etwas würde anzufangen
sein.
In diesem Werk lassen sich zwei Sorten von Filmen unterscheiden: solche, in
denen das Bild eines Flusses fehlt (am Sonntag von halb acht bis halb elf) und
solche, in denen es vorhanden ist (von halb elf bis halb eins). Allein die
"Hurlements en faveur de Sade", die eindeutig der ersten Sorte angehören <2>,
sind mittlerweile von nur noch historischem Wert: der Skandal, den sie 1952
ausgelöst haben <3>, lässt sich heute schwer reproduzieren, ist ihr Ziel,
nämlich eine Situation herzustellen, in der die Zuschauer im Kino miteinander zu
sprechen beginnen, doch zumindest im Pirate Cinema bereits verwirklicht. Und
auch wenn wir während des Films für eine Stunde die Getränkepreise verdoppeln
werden, um zumindest einen gewissen Anreiz zur spontanen Selbstorganisation
des Publikums gegen das Kino zu bieten, so rechnen wir doch nicht mit einem
Aufstand.
Auch die "Gesellschaft des Spektakels", die in der Geschichte des Kinos
vermutlich einzige werkgetreue Verfilmung eines theoretischen Textes <4> (sowie
die ebenfalls verfilmte "Zurückweisung aller Kritik" an dieser Verfilmung: der
in der Geschichte des Kinos vermutlich einzige Film, der sich ausschliesslich
mit der Rezeption eines vorherigen beschäftigt), kommt ohne das Bild eines
Flusses aus - bedient sich allerdings ausgiebig, genauso wie bereits der Text
bei Hegel, Marx und Lukács, bei Sam Wood, John Ford und Nicolas Ray. Während
Le Monde den Film 1973 als "Theorie-Western" bewarb, halten wir ihn weiterhin
eher für einen ersten <5> "Klassiker des urheberrechtsverletzenden Films" <6>,
und diesen Titel noch nicht einmal für allzu weit hergeholt, hat der Autor die
Möglichkeit einer Urheberrechtsklage mit seinem Verleger und Produzenten doch
sogar explizit erörtert <7>. In einer Zeit, in der beim Umgang mit historischem
Material das der situationistischen Zweckentfremdung genau entgegengesetzte
Verfahren - jede richtige Idee nämlich durch eine falsche zu ersetzen - sich
durchgesetzt zu haben scheint, bleibt die "Gesellschaft des Spektakels", als
Kritik und Zurückweisung aller - wenn auch wohlmeinenden - Ansichten zur
angeblichen Aktualität des Historischen <8>, zum sogenannten Scheitern von
Revolten <9> und zum vermeintlich Authentischen im Kino <10>, absolut
sehenswert.
Noch aufschlussreicher scheinen uns jedoch die drei Filme Debords zu sein, in
denen das Bild eines Flusses zu sehen ist - und zwar stets zusammen mit drei
weiteren Bildern: den Strassen von Paris, den Gesichtern von Freunden und einer
unabsehbaren Menge alkoholischer Getränke <11>. Nirgendwo sonst als in diesen
Filmen hat Debord der Unterstellung, er sei ein Theoretiker der Revolution
gewesen, schärfer widersprochen: alles, wovon er zu berichten habe, seien Tage
und Nächte, Städte und Personen, Liebschaften und Abenteuer. Der Ausgangspunkt
von Debords Vorhaben, die Welt unregierbar zu machen - und das ist deshalb so
interessant, weil es sich dabei um eine Situation handelt, deren grundsätzliche
Wiederholbarkeit offensichtlich ist - liegt im kurzen Sommer von 1952, in der
"Passage einiger Personen durch eine kurze Spanne der Zeit", und die "Kritik der
Trennung" lässt sich nicht einfach nur als abstrakte Kritik der "vollendeten
Trennung" durch die "spektakuläre Warenökonomie" verstehen <12>, sondern als
konkrete Kritik der Trennung von einigen Freundinnen und Freunden. Den Exegeten
der "Gesellschaft des Spektakels" ist bis heute weitgehend entgangen, dass deren
erste und beliebteste These - "Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine
Vorstellung entwichen." - ursprünglich nicht, auch wenn sie seitdem als solche
gern gelesen wird, als Kritik der Repräsentation und Lob der Unmittelbarkeit
angelegt war, sondern, in der "Passage einiger Personen", als Kritik des
Vergehens der Zeit: "Alles, was unmittelbar erlebt wurde, erscheint eingefroren
in der Entfernung, erstarrt in den Illusionen einer Epoche, und mit ihr
vergangen." <13>
Doch erst in seinem dritten und letzten Film mit Bild vom Fluss, "In girum imus
nocte et consumimur igni", entwickelt Debord dieses Bild der Zeit zu Ende. Was
als besserer Trinkspruch beginnt - man steigt nie zweimal in denselben Fluss, so
jung kommen wir nicht mehr zusammen - kehrt als eine der zugleich treffendsten
wie lapidarsten Venedigansichten der Filmgeschichte wieder - "Die Zeit vergeht,
wie eine Gondel am Dogenpalast vorbeifährt, mit anderen Worten: recht schnell."
- und mündet schliesslich in der zwar erstmal nüchternen, dann aber auch wieder
nicht so nüchternen Bilanz, die ganz am Ende von Debords filmischem Werk steht
und mit der er das zwanzig Jahre zuvor begonnene Projekt "Kritik der Trennung"
negativstmöglich dialektisch <14> vollendet: Zu den grössten Vergnügen, die er
in seinem Leben genossen habe, gehöre die Empfindung des Vergehens der Zeit, und
als Zeuge der Auflösung von sozialer Sicherheit und Ordnung habe er seine Epoche
geliebt.
Eine letzte Fussnote bleibt der Fernsehfilm "Guy Debord, son art et son temps"
(5 Minuten "son art", 55 Minuten "son temps"), den Debord kurz vor seinem Tod
zusammen mit Brigitte Cornand für Canal Plus hergestellt hat und der ihn, wenn
auch nicht im Bild, beim Zappen durch das - bekanntlich spektakulär schlechte -
französische Fernsehprogramm zeigt. Das Bild vom Fluss, bei dem er dabei
hängenbleibt, passt allerdings genau: Das Zentrum von Paris mit Pont Neuf als
Filmset, hinter dessen Bauten, deren gemalte Fassaden beim Überflug der Kamera
perspektivisch in sich zusammenstürzen, eine verlassene Sumpflandschaft sichtbar
wird.
<1> "One has transmitted to me your amiable letter. I will do my best to
respond to you. I believe that I was wrong to declare, after the
assassination of Gerard Lebovici, 'that none of my films will again be
projected in France.' This restriction hardly justifies itself, and was
only put forward so as to mark the particular ignominy displayed on this
occasion by the French press. Naturally, I should have said: never again
and nowhere.
You know that I have always been viewed very badly, and quite rightly so,
by all of the cinematic milieu. But I have always shown it the most
scornful independence. After the recent, unexpected restructurations in
this industry, I quite obviously risk no longer having control over what
can be done, one day or another, with my films, over the places where they
can be shown, and the neighborhoods that might surround them. So that it is
without doubt more suitable for me to announce that I disavow in advance
all subsequent screenings. This at the certainly regrettable price of
depriving the very small number of people who have the desire (but never
the need) to see them. One will perhaps be able to see them, here or there,
after my death; because each will then be able to make the argument that I
no longer have any responsibility for the occasion."
(Brief Guy Debords an Thomas Levin, 29. Mai 1987)
<2> http://0xdb.org/0410096?v=timeline
<3> Noch im Juni 1960, nach einer Vorführung des Films im Londoner ICA, drohte
ein Zuschauer, er werde seine Mitgliedschaft kündigen, wenn man ihm nicht
das Eintrittsgeld erstattete, und beschwerte sich ein anderer, er sei mit
seiner Gattin aus Wimbledon angereist und hätte einen Babysitter bezahlen
müssen.
<4> Eisenstein konnte sein Vorhaben, "Die Kritik der politischen Ökonomie",
"Die deutsche Ideologie" oder "Das Kapital" zu verfilmen, nie realisieren.
<5> Schon bei den "Hurlements en faveur de Sade" stellt sich allerdings die
Frage der "Originalität": Debord bemerkt, Yves Klein, der bei der ersten
Vorführung des Filmes anwesend war, habe die 24-minütige, schwarze
Schlusssequenz des Films als Vorlage zu seinen monochromen Bilden gedient;
etwaige Credits jedoch gebührten, wenn überhaupt, Malevich.
<6> http://piratecinema.org/screenings/20040926
<7> Brief Guy Debords an Gerard Lebovici, 13. November 1973,
http://piratecinema.org/textz/guy_debord_basis_for_a_defense_in_a_possible_
lawsuit_for_plagiarism.html
<8> "Nicht nur für heute politisch Aktive bietet diese Filmreihe Gelegenheit,
eine Geschichte kennen zu lernen, die zwar vorbei zu sein scheint, in der
aber Auseinandersetzungen stattfanden, die höchst aktuell sind." (Werbetext
zur Filmreihe "1967-1977: Zur Geschichte einer Bewegung",
http://www.babylonberlin.de/1967und1977.htm)
<9> "Markers nachdenklicher Versuch einer Bilanz der 68er-Revolte sucht
festzustellen, ob trotz des Scheiterns der emanzipatorischen Bewegungen ein
'rotes Lüftchen' geblieben ist." (Werbetext zu Chris Markers "Le fond de
l'air est rouge", http://www.babylonberlin.de/1967und1977.htm)
<10> "Der Dokumentarfilm zeichnet durch Archivmaterial aus Nachrichten,
Zeitungen, des FBI und private Videoaufnahmen ein authentisches Bild der
Zeit. Schonungslos werden auch Bilder des Vietnamkrieges gezeigt."
(Werbetext zu Sam Greens und Bill Siegels "The Weather Underground",
http://www.babylonberlin.de/1967und1977.htm)
<11> "Es ist schwer, noch mehr zu trinken", heisst es in der "Passage einiger
Personen durch eine kurze Spanne der Zeit", und es gibt keinen Grund, diese
Feststellung in Zweifel zu ziehen.
<12> oder als theoretisches Programm des "Unitären Urbanismus", wie die
Lettristische Internationale ihre Praxis des gemeinsamen Trinkens und
Herumirrens damals nannte
<13> Den Experten des französischen Kinos weitgehend entgangen ist die relativ
erstaunliche Tatsache, dass es sich bei dem Bild zu diesem Satz um das
überhaupt erste Kino-Bild von ausgerechnet Anna Karina handelt, die hier,
Jahre bevor sie als Godards Muse bekannt werden sollte, in einem
zweckentfremdeten Werbespot für Seife zu sehen ist.
<14> genauer, und mit Bildern, hier: http://piratecinema.org/screenings/20050529
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